Hermann Weiler und Frieda Weiler, geb. Dellevie

Kölnische Straße 4  Ecke Mauerstraße

Frieda Dellevie ist am 7. Juni 1881 in Kassel zur Welt gekommen. Ihre Eltern waren Adolph und Rosa Dellevie (geb. Ullmann). Die Dellevies waren seit etwa 1790 in Kassel ansässig. Sie entstammte einer wohlhabenden, gebildeten und musikalischen Familie mit jüdischer Herkunft. Zwei Brüder Theodor und Alfred waren promovierte Juristen. Schon in jungen Jahren war sie eine bekannte klassische Pianistin. Bei einem Konzert lernte sie ihren späteren Mann Herman Weiler kennen, etwa um 1900.

In 1904 heirateten Frieda Dellevie und Hermann Weiler. Hermann ist am 17. Januar 1875 in Kassel, Kölnische Straße 4 geboren. Seine Eltern waren Carl und Johanna Weiler, beide jüdischer Herkunft. Carl war Begründer eines florierenden Kaffegeschäftes, zunächst im Einzelhandel, dann als Großhändler. Er war Miterfinder und Patentinhaber der Vakuumverpackung für Kaffee. Sein Kaffeegeschäft wuchs schnell und Carl war 1883 in der Lage, das schöne, große 4 ½ -stöckige Haus in der Kölnischen Straße 4 zu kaufen (insgesamt 25-30 Zimmer, alle Geschosse zusammengezählt).

Kölnische Str. 4 um 1930 Im 2. Stock wohnten Hermann und Frieda Durch den Torbogen in der Mauerstraße ging es auf den Hof
Kölnische Str. 4 um 1930 Im 2. Stock wohnten Hermann und Frieda Durch den Torbogen in der Mauerstraße ging es auf den Hof

Steve Fulda, Urenkel von Carl und Enkel von Hermann und Frieda, schreibt:
"An der Rückseite des Gebäudes, angrenzend an seinen großen, malerischen, gepflasterten Innenhof entwarf und baute er (Carl) eine halbmechanisierte Fabrik, in der hochwertige Kaffeebohnen (aus Brasilien in riesigen Säcken, von Pferdewagen angeliefert) auf Förderbändern sortiert und ausgelesen, dann je nach Qualität der Partien unter hohen Temperaturen geröstet, in Dosen vakuumverpackt und schließlich in verschiedenen Ausstattungen versandfertig gemacht wurden. In der Mitte der 1880er Jahre hatte Carl eine erfolgreiche Kaffeerösterei aufgebaut, die vakuumverpackten Kaffee in immer weiter entfernte Regionen verschickte.
1894 starb Carl plötzlich im Alter von 51 Jahren. Der einzige Sohn Hermann, gerade 19 Jahre alt, hatte die Firma zu übernehmen. Er musste sein Musikstudium abbrechen."

Frieda und Hermann Weiler ca. 1912
Frieda und Hermann Weiler ca. 1912

Enkel Steve über seinen Opa:
"Hermann hatte nie ein starkes Interesse an geschäftlichen Dingen entwickelt und war mit 19 Jahren nicht vorbereitet, diese erfolgreiche Kaffeerösterei zu übernehmen. Aber mit der Unterstützung seiner Mitarbeiter gelang es ihm, die Firma weiter zum Wachsen und Blühen zu bringen. Über die Jahre, mittlerweile in sehr guten finanziellen Verhältnissen, verfolgte er seine musikalischen Interessen, indem er verschiedene musikalische Einrichtungen und Veranstaltungen förderte. Dabei lernte er die junge Konzertpianistin Frieda Dellevie (ebenfalls aus Kassel) kennen, die später meine Großmutter werde sollte.
1904 heiratete Hermann meine Großmutter Frieda Dellevie. Sie bekamen zwei Kinder: Meine Mutter Margot (1905-1966) und meine Tante Karla (1912-2001). Margot Weiler heiratete 1923 meinen Vater Hans Fulda (1894-1967). Hermann, der immer noch sein Musikleben dem Geschäft vorzog, führte meinen Vater Hans Fulda als leitenden Geschäftsführer/Leiter Finanzwesen in das Familienunternehmen ein. Hans und Margot feierten keine jüdische Hochzeit: Hans, obwohl auch aus einer jüdischen Familie stammend, war 1916 formal zum Katholizismus konvertiert."
Die Weilers und die mit ihnen verschwägerten Familien Dellevie und Fulda haben von ihren Vorfahren musikalische Gene vererbt bekommen. Als Förderer der Künste hatten Hermann und Frieda fast jedes Wochenende in ihrer großen Wohnung in der Kölnischen Straße Musiker zu Gast. Tochter Margot spielte Klavier und Karla Geige. Diese Eigenschaften haben sie auch an ihre Nachkommen weitergegeben.
Noch eins muss festgehalten werden: Die Einhaltung jüdischer Sitten und Gebräuche stand nicht im Mittelpunkt der Weiler-Familie. Und trotz seines Wohlstandes spendete er selten für Geistlichkeit und Synagoge. Auch die Enkelkinder genossen keine jüdische Erziehung.
Nach der Machtübertragung an die Nazis diskutierte die Familie über ihr weiteres Leben in Kassel und Deutschland. Großvater Hermann und Großmutter Frieda entschieden sich, in Kassel zu bleiben. Er, weil er ein angesehener und bekannter, führender Geschäftsmann und Wohltäter etlicher Musik- und Kunstaktivitäten in Kassel war, Frieda, weil sie eine erfolgreiche Konzertpianistin war in einem Kreis von meist christlichen Musikkollegen. Herman war überzeugt, dass das „Naziproblem“ vorübergehen würde.
Tochter Karla Weiler-Ewing ging mit ihrem Mann schon 1933 nach England. Und war in den Jahren 1936,1937 und 1938 noch mal zu Besuch in Kassel. Tochter Margot ist mit ihrem Mann Hans Fulda und den Kindern Renate und Stephan (Steve) 1939 nach Dallas in die USA geflohen.

Hermann Weiler um 1912
Hermann Weiler um 1912

Bei den ersten Boykottaktionen des Jahres 1933 ist das Kaffeegeschäft unbehelligt geblieben. In der Kasseler Reichskristallnacht vom 7. November jedoch nicht. Auf Grund der Zeitzeugen Renate Fulda und Oma Friedrich schreibt Steve Fulda über diese Ereignisse:
"Ein schreiender, unbändiger Nazi-Mob zerschlug die Schaufenster des Kaffeegeschäfts, drang in unseren Laden ein, versetzte sowohl meinen Großvater Hermann und meinen Vater Hans in Schrecken, verhaftete sie und karrte sie ins Konzentrationslager Buchenwald. Der Mob fuhr fort, unseren großen Laden zu durchwühlen, stahl oder zerstörte die umfangreichen, verpackten Waren und Dosen in den Regalen und einen großen Teil der Ladeneinrichtung. Dennoch verschonte der Mob die Kaffeeverarbeitungsfabrik."
Hermann Weiler und sein Schwiegersohn Hans Fulda gehörten zu jenen 250 jüdischen Männern aus dem Raum Kassel, die im Anschluss an die Pogromnacht am 10.11.1938 zunächst in der Kaserne an der Hohenzol-lernstraße eingesperrt und anschließend ins KZ Buchenwald gebracht wurden. Hermann Weiler war in Buchenwald unter der Häftlingsnummer 21941 registriert und wurde am 26.11.38 wieder entlassen. Es ist davon auszugehen, dass es Schwiegersohn Hans Fulda ähnlich ergangen ist.
Demütigende Aufnahmeprozeduren mit stundenlangem Appell-Stehen, Entkleiden, Haarescheren und dem Anlegen der Häftlingskleidung wirkte auf die Opfer schockierend. Bürgerliche Werte und Ehrentitel galten plötzlich nicht mehr; die Gefühle der Entwürdigung, der Rechtlosigkeit und des Ausgeliefertsein waren überwältigend.
Hermann wurde am 30. November 1939 erneut verhaftet und in das KZ Sachsenhausen eingeliefert, Häftlingsnummer: 10 122, NS-Haftkategorie: Jude und ist am 18. Dezember 1939 im KZ Sachsenhausen verstorben, 65 Jahre alt. Fingierte Todesursache: Herzkranzgefäßverkalkung. Wir wissen heute, dass in den Lagern das Prinzip „Vernichtung durch Arbeit“ galt.
Im Hause Kölnische Straße 4 sind im den Jahren 1930 bis 1945 viele Mieter ein- und ausgezogen, darunter auch viele Familienangehörige. Schon 1930 hatten die Rechtsanwälte Alfred Dellevie und Theodor Dellevie ihre Kanzlei im 1.Stock. 1926 sind Margot und Hans Weiler-Fulda mit Tochter Renate in die Wilhelmshöher Allee ausgezogen. Im September 1933 aber wieder zurückgekommen. Im Jahre 1936 findet sich im Hausstandsbuch der Eintrag, dass Rosa Dellevie, geb Ullmann (Friedas Mutter) zusammen mit ihren Söhnen Alfred und Theodor (Friedas Brüder) eingezogen ist. Es ist zu vermuten, dass die Familienmitglieder angesichts des immer feindlicher werdenden Umfelds familiären Schutz gesucht haben. Im Zeitraum 1937 – 1941 sind fast 50 jüdische Mieter ein- und ausgezogen. Manche waren nur kurze Zeit im Haus.
Nach Hermanns Ermordung erkannten Frieda Weiler, ihr Bruder Theodor Dellevie und Theodors Frau Olga, dass sie gehen müssen. Da der Krieg schon 2 Jahre im Gange war, ein schwieriges Unterfangen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Theodors Verbindungen geholfen haben, noch kurz vor der ersten Kasseler Deportation aus Deutschland rauszukommen. Ausgezogen lt. Hausstandsbuch: 25.10.1941 nach Columbien. Sie waren die letzten, die aus Kassel fliehen konnten.
Ihre Flucht aus Kassel ging mit dem Zug, mit dem Bus und zu Fuß über die Grenze ins besetzte Frankreich, nach Südwesten ins unbesetzte Frankreich, mit einem Pferdewagen über die Pyrenäen nach Spanien, durch Spanien nach Portugal. 1941 war Portugal neutral und damit ein halbwegs sicherer Ort für Menschen jüdischer Herkunft. Lissabon war ein freier Hafen. Es gelang ihnen sogar mit genug Geld zu entkommen (Goldmünzen, eingenäht in ihre Kleidung) um dann die Schiffspassage nach Kuba zu bezahlen.

Frieda Weiler (66), Margot Fulda-Weiler (42) und Steven Fulda (14)
Frieda Weiler (66), Margot Fulda-Weiler (42) und Steven Fulda (14)

Während sie für Wochen in Lissabon auf die verschlimmerte sich Theodors Parkinsonerkrankung. Schließlich buchten die drei Ende 1941 die Reise, aber Theodor schaffte es nicht mehr in die Neue Welt. Er starb auf Grund seiner Erkrankung während der Überfahrt an Bord und ist in Havanna begraben. Nach 2 oder 3 Wochen konnten die Frauen nach Bogota weiter reisen, wo ihnen die Kolumbianische Regierung eine Einwanderungs- und Arbeitserlaubnis gegeben hatte. Dort angekommen, gab Frieda Klavierunterricht und Olga fand Arbeit als Porzellanmalerin und Kunstlehrerin, bis sie dann endlich 1943 in der Lage waren, dank Margots (Fulda-Weiler) fleißiger Bemühungen die Einwanderungspapiere für die USA zu bekommen.
Frieda Weiler starb im Alter von 94 Jahren am 15.11.1975 in England.

 

 

 

 

 

 

Das Grab Hermann Weilers auf dem jüdischen Friedhof in Kassel-Bettenhausen verrät nichts über seinen Tod im Konzentrationslager.

Zusammengetragen von Jochen Boczkowski nach:
„Excerpts from STEVEN FULDA’S LIFE STORIES and GENEALOGY“; Übersetzung Christian Mackensen im Mai 2015,
Gedenkbuch Kassel - ITS Arolsen – Hausstandsbuch Kölnische Str. 4 - Adressbücher Kassel – alle Fotos Steve Fulda, USA


Steinpaten: Hanna Bielefeld-Hart und Wolfgang Jatho

 

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